2012
1971, IAA Frankfurt, die neue Oberklasse aus Stuttgart sollte eigentlich ihre Premiere feiern und erstmals offiziell den Namen S-Klasse tragen. Aus Kostengründen und weil der Verband der Automobilindustrie die IAA absagte, wurde der Termin aber verschoben. Ein Jahr später, im September 1972, war es dann soweit. Nach qualitativen und technischen Feinschliff an dem rund fünf Meter langen Flaggschiff fuhr die neue Baureihe W116 auf dem Pariser Automobilsalon vor. Das Warten hatte sich gelohnt: der neue Stuttgarter Straßenkreuzer stahl bei seiner Vorstellung allen die Show.
Die neue S-Klasse war eine kolossale Chromklasse, ein sprichwörtlicher Fels in der Brandung. Sie wirkte in den schnelllebigen siebziger Jahren wie ein monumentales klassisches Kunstwerk, das mit reichlich Chrom und optionalen V8-Kraftwerken allen Krisen trotzte. Die neue Baureihe W116 war im Vergleich zu ihrem Vorgänger W109 schon allein durch die Betonung der Horizontalen mittels gradliniger Grundform, dem wuchtigem Grill, der breiten Scheinwerfern sowie der überdimensionierten, geriffelten Rückleuchten eine völlig neue Erscheinung. Das neue Blechkleid wirkte massiv. Darunter fuhr der massige, beladen bis 2,4 Tonnen schwere Luxusliner moderne Technik auf, die durch regelmäßige, revolutionäre Updates keine Konkurrenz fürchten musste. Dazu zählte das mit 20.000 Mark damals teuerste und modernste Autotelefon (1973), der hubraumgrößte deutsche V8-Motor (ab 1975) ebenso wie das hydropneumatische Fahrwerk mit Niveauregulierung (ab 1975), der erste Turbodiesel in der Oberklasse (ab 1978), die erste serienmäßige europäische ABS-Bremsanlage (1978) oder der erste Serien-Tempomat (ab 1978).
Revolutionär war von Beginn an die Fahrwerks- und Getriebetechnik. Hinten hatte die altertümliche Eingelenk-Pendelachse zugunsten einer Einzelradaufhängung nun ausgedient, vorne kam eine im Wankel-Experimentalsportwagen C111 erprobte Radaufhängung zum Einsatz. Eine neue, optionale Viergang-Automatik machte in den Sechszylindertypen 280 S und SE das Anfahren im zweiten Gang zum Standard. Dieses Automatikgetriebe war ideal für den Anhängebetrieb und machte den ersten Gang fast überflüssig. Er kam eigentlich nur noch beim Kickdown zum Einsatz.
Unter der langen Motorhaube kamen Sechszylinder-Benziner und V8-Benziner sowie erstmals ein Fünfzylinder-Turbodiesel zum Einsatz. Ausreichend Leistung bot bereits das Einstiegsmodell 280 S, dessen 160 PS starker 2,8-Liter-Vergaser-Sechszylinder in zeitgenössischen Tests Spitzengeschwindigkeiten von fast 200 km/h erreichte, damals die entscheidende Markierung auf der Tempomesslatte. Verbrauchswerte von 20 Liter auf 100 Kilometer schienen den Testfahrern angemessen, tatsächlich konsumierten viele Rivalen deutlich mehr. Benzin sparen und dennoch schneller fahren ließ sich dagegen mit dem 280 SE, der dank Benzineinspritzung 185 PS entwickelte. Ganz anders der kleine Achtzylinder im 350 SE, der kaum temperamentvoller war, aber Testverbrauchswerte von bis zu 24 Litern zeitigte. Zum „Auto des Jahres 1973“ ausgezeichnet wurde wenige Monate vor der Energiekrise das neue Spitzenmodell 450 SE mit 225 PS starkem V8. Das eigentliche Topmodell war 1975 aber der Mercedes-Benz 450 SEL 6.9, mit einem 6,8-Liter-(286 PS)-V8-Motor.
Respekt erwarb sich Mercedes-Benz auch mit der Einführung des 300 SD, der 1978 als weltweit erste Oberklasselimousine mit Fünfzylinder-Selbstzünder Schlagzeilen machte. Rund 29.000 Fahrzeuge des 115 PS entwickelnden Turbodiesels wurden allein in Amerika abgesetzt, wo die gemächliche Beschleunigungszeit von 17 Sekunden auf das illegale Tempo von 100 km/h irrelevant war. Dafür glänzte der große Mercedes-Benz beim Verbrauch: maximal 12 Liter auf 100 Kilometer genehmigte sich die Prestigelimousine. Allerdings beugte sich Mercedes-Benz mit der Einführung des Diesels eigentlich nur gesetzgeberischen Zwangsmaßnahmen. Die US-Regierung führte damals den sogenannten Flottenverbrauch ein. Der genügsame Diesel-Riese genoss seine Popularität jedoch bis zum Schluss. Als im September 1980 ein 300 SD als letzte W116-Limousine vom Fließband rollte und die Baureihe in den Ruhestand schickte, war der Nachfolger W126 bereits ein Jahr alt.
In den Zulassungstatistiken entschied die neue Oberklasse aus Stuttgart den Kampf um den Titel „Beste Limousine der Welt“ sofort für sich. Die Konkurrenz hatte keine Chance. Von 1972 bis 1980 liefen 473.000 Einheiten in Sindelfingen vom Band. Die Baureihe W116 – das war ein einzigartiger Mix aus innovativer Technik, klassischen Karosseriekonturen und bürgerlicher Solidität. Ernste Kinderkrankheiten und Qualitätsmängel kannte die Sonderklasse nicht. Sie trotzte stabil wie eine Burg den Stürmen der Zeit. Weder Ölknappheit, Fahrverbote oder scharfe Abgasvorschriften konnten Ihr etwas anhaben. Grelle Farben und Formen und rasch wechselnde Moden bestimmten die 1970er Jahre – am Thron der S-Klasse konnte damals noch niemand rütteln, schließlich galt Sie schon damals mit möglichen Laufleistungen jenseits der 500.000-Kilometer-Marke als unzerstörbar, sofern der Kampf gegen die Korrosion rechtzeitig gewonnen wurde.
Nicht wenige der großen Luxusliner haben bis heute überlebt. Das einstige Kultfahrzeug von Kanzlern, Königen und Industriekapitänen ist heute aber eher selten. Das „Auto des Jahres 1973“ steht kaum auf einem Hof eines Gebrauchtwagenhändlers. Die wenigen Exemplare im Internet sind nicht wirklich erwähnenswert. Gut restaurierte Wagen findet man beim Oldtimerhändler, zum Beispiel in der Classic Remise / Meilenwerk Berlin. Für die S-Klasse der Baureihe W116, die mehrfach die amerikanische Auszeichnung „Best Sedan in the World“ verliehen bekam, sind heute gut 35.000. Euro zu investieren (Mercedes-Benz 450 SEL 6,9, Baujahr 1977 mit 152.000 Kilometer Laufleistung, 286 PS, mit Automatikgetriebe). Fahrzeuge der ersten Baujahre tragen bereits das begehrte H-Kennzeichen und sind nun ein moderner Klassiker.
Die Geschichte der Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe W116
1966: Entwicklungsbeginn für die S-Klasse der Baureihe W116
1970: Im Frühjahr werden die ersten Erlkönige der neuen S-Klasse-Generation gesichtet
1971: Im Frühjahr debütiert der Roadster 350 SL der Reihe R107 als Vorbote der neuen S-Klasse-Generation.
1972: Im August Serienstart des Mercedes-Benz 350 SE, im September Serienanlauf der Typen 280 S und 280 SE. Publikumspremiere auf dem Pariser Salon Ende September. Produktionsstart für den 450 SE im Dezember.
1973: Im Februar laufen die Bänder für das Modell 450 SEL an. IAA-Premiere für 450 SE und SEL im September. Im November Serienstart für den 350 SEL. US-Exportstart für 450 SE/SEL. Der 450 SE gewinnt den Titel „Auto des Jahres 1973″
1974: Nach der ersten Ölkrise startet im September in den USA der Import des 280 S mit bescheidenen 120 PS Leistung
1975: Im Mai 1975 wird der Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 das neue Spitzenmodell der Baureihe. Im September niedrigere Verdichtungsverhältnisse und Leistungsreduzierung bei 450 SE/SEL, im Dezember bei 280 S, 280 SE/SEL und 350 SE/350 SEL. Auf der IAA feiert im September der 450 SEL 6.9 als neues Spitzenmodell Publikumspremiere
1977: Vorstellung des 300 SD als weltweit erster Oberklasselimousine mit Turbodieselmotor. Der 450 SEL 6.9 wird in die USA exportiert. Das ABS-System ist nun Serie.
1978: Im Mai Produktionsanlauf und Markteinführung des 300 SD Turbodiesel. Im September bekommen die Modelle 350 SE/SEL und 450 SE/SEL eine Leistungsspritze.
1979: Auf der IAA feiert die nächste S-Klasse-Generation (W126) ihre Weltpremiere.
1980: Produktionsauslauf für die Modelle 280 SEL und 450 SEL 6.9 im Mai, für 280 S, 280 SE, 350 SEL, 450 SEL im Juli, für 350 SE und 300 SD im September.
Produktionszahlen der Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe W116
Insgesamt wurden in der Zeit von 1972 bis 1980 von der Mercedes-Benz S-Klasse der Baureihe W116 (280 S bis 450 SEL 6.9): 473.035 Einheiten produziert. Davon 292 Einheiten mit Sonderschutzausstattung. Am erfolgreichsten war das Modell 280 SE (1972-1980) mit 150.593 Einheiten gefolgt vom 280 S (1972-1980) mit 122.848 Einheiten. Mit Abstand folgten die Modelle 450 SEL (1973-1980): 59.578 Einheiten, 350 SE (1972-1980): 51.100 Einheiten, 450 SE (1972-1980): 41.604 Einheiten und 300 SD (1978-1980): 28.634 Einheiten. Die geringsten Stückzahlen erreichten die Modelle 450 SEL 6.9 (1975-1980): 7.380 Einheiten, 280 SEL (1974-1980): 7.032 Einheiten und 350 SEL (1973-1980): 4.266 Einheiten.
Wichtige Motorisierungen der Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe W116
Mercedes-Benz 280 S mit 2,8-Liter-Sechszylinder-Benziner mit 160 PS bzw. 156 PS,
Mercedes-Benz 280 SE/SEL mit 2,8-Liter-Sechszylinder-Benziner mit 185 PS bzw. 177 PS,
Mercedes-Benz 350 SE/SEL mit 3,5-Liter-V8-Benziner mit 195 PS, 200 PS bzw. 205 PS,
Mercedes-Benz 450 SE/SEL mit 4,5-Liter-V8-Benziner mit 217 PS bzw. 225 PS,
Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 mit 6,8-Liter-V8-Benziner mit 286 PS,
Mercedes-Benz 300 SD mit 3,0-Liter-Fünfzylinder-Turbodiesel mit 115 PS
Fotos: Daimler AG
Geschrieben von Maik Jürß
Erschienen am Montag, den 13. August 2012 um 19:48 Uhr | 10.815 Besuche
Abgelegt unter S-Klasse
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