Mai05
2011


SLS AMG Roadster auf Erprobungsfahrt

Die offene Variante des SLS ist nach dem Flügeltürer das zweite, von AMG eigenständig entwickelte Automobil. Coupé und Roadster sind konzeptionell parallel entstanden – was entscheidende Vorteile bei der Entwicklung mit sich brachte. Ein besonderes Augenmerk legten die Ingenieure im Rahmen der rund dreijährigen Entwicklungszeit des SLS AMG Roadsters auf die Themen Rohbau-Steifigkeit, Fahrdynamik, Roadster-Verdeck und NVH.

Großraum Stuttgart, Frühling 2011: Leicht getarnt ziehen sie ihre Bahnen, die neuen SLS AMG Roadster (R197). Für den Kenner leicht zu identifizieren, doch für so manch einen sind die Zweisitzer mit dem Stoffverdeck nur irgendwelche Prototypen: weder Mercedes-Sterne, noch Typenschilder sind zu sehen, dafür schwarze Folie an Front, Heck und Fahrzeugflanke. Doch die Proportionen sprechen für sich: Lange Haube, große Räder und kurzes Heck lassen eine atemberaubende Sportwagen-Form erkennen.

Bis zur Weltpremiere im September 2011 auf der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt/Main sind noch einige Monate Zeit. Zeit, um den Reifegrad des neuen SLS AMG Roadster sicher zu stellen. Die Hauptarbeit haben die AMG Verantwortlichen bis dato schon hinter sich, denn konzeptionell sind Coupé und Roadster parallel entstanden. Grundlage bei der Entwicklung und Erprobung eines neuen AMG High-Performance-Automobils ist der digitale Prototyp (DPT). Ausgiebige Untersuchungen helfen dabei, bestimmte Zielsetzungen zu erreichen. Ob Rohbau-Konstruktion, Gewichtsverteilung, Einbauposition des Motors, Schwerpunktlage oder Achskonstruktion, aber natürlich auch Fahrdynamik, Aero­dynamik, Ergonomie, Crashverhalten und Produktionsprozess – modernste Simulationsprogramme ermöglichen die realitätsnahe Abbildung eines Fahrzeugs und all seiner Eigenschaften. Der digitale Prototyp ist somit ein komplettes virtuelles Automobil.

Dabei nutzt AMG das reichhaltige Know-how derMercedes-Benz Kollegen: Wie beim Coupé wurde auch für die offene Variante des SLS AMG die vernetzte Entwicklung mit ausgewählten Mercedes-Benz Entwicklungsbereichen des Mercedes Technology Centers (MTC) in Sindelfingen intensiviert. Modernste Simulationsprogramme und aufwändige Testfahrten auf allen Kontinenten machen den 420 kW (571 PS) starken Roadster fit für die Markteinführung im Herbst 2011. Ihren Fokus legten die Experten aus Affalterbach dabei auf die Themenfelder Rohbau-Steifigkeit, Fahrdynamik, Verdeck und NVH – dieser Begriff steht für „Noise, Vibration, Harshness“ und bedeutet Geräusch, Vibrationen, Rauheit.

Um trotz fehlenden Dachs ein identisches Fahrdynamik-Niveau wie beim Coupé zu erzielen, verfügt der Roadster über zwei weitere den Rohbau versteifende Maßnahmen: Der Träger der Instrumententafel stützt sich über zusätzliche Streben am Windschutzscheibenrahmen sowie auf dem Mitteltunnel ab, zudem versteift eine Domstrebe zwischen Verdeck und Tank die Hinterachse. All dies verhindert unerwünschte Schwingungen bereits im Ansatz und macht den Einsatz zusätzlicher, gewichtstreibender Schwingungstilger, wie sie häufig bei Wettbewerbsfahrzeugen zu finden sind, überflüssig. Ein weiterer, wichtiger Aspekt: Nur wenn der Rohbau die gewünschte Steifigkeit hat, kann das Verdeck während der Fahrt elektrohydraulisch bis zu einem Tempo von 50 km/h sicher geöffnet und geschlos­sen werden. Im Übrigen sind die Längsträger im Front- und Heck­modul beider SLS AMG Modelle identisch. Der Rohbau des Roadsters bringt nur 243 Kilogramm auf die Waage – ein vergleichbar geringes Gewicht wie der Rohbau des SLS AMG Coupé mit 241 Kilogramm.

Durch den Wegfall von Coupé-Dach und Flügeltüren verfügt der offene SLS AMG über einen versteifenden Querträger hinter den Sitzen, der das fest stehende Überrollschutzsystem aufnimmt. Nicht zu vergessen: Der 250-Watt-Subwoofer des Bang&Olufsen BeoSound AMG High-End-Soundsystems: Er findet seinen Platz im Querträger; der Coupé-spezifische Einbauort auf der Hutablage ist wegen des Roadsterverdecks entfallen. Eine besondere Herausforde­rung war die akustische Abdichtung des Querträgers, der als Subwoofer-Gehäuse für die beiden 165 Millimeter großen, in Reihe geschalteten Lautsprecher dient. Bis sich der erwünschte Hörgenuss einstellte, waren zahlreiche Optimierungen nötig. Erst mithilfe einer speziellen Schottwand im Alu-Querträger konnten alle audiophilen Maßstäbe als erfüllt gelten.

Ebenso ein Fahrdynamik-Thema ist das dreilagige Stoffverdeck des SLS AMG Roadster, das sich Platz sparend in Z-Faltung hinter den Sitzen ablegt. Die gewichtsoptimierte, kombinierte Magnesium-Stahl-Aluminium-Konstruktion sorgt für einen tiefen Schwerpunkt und ist für Tempi bis zur Höchstgeschwindigkeit von 317 km/h (elektronisch begrenzt) ausgelegt. Egal ob offen oder geschlossen: Auch bei Topspeed darf kein störendes Flattern, Wummern, Zischen, Klappern, Pfeifen oder Heulen auftreten. Ebenso müssen das aufsteckbare Glas-Windschott sowie die Verkleidungsteile im Innenraum, am Verdeck und an der Bordkante vibrationsfrei befestigt sein. Nichts darf den Open-Air-Genuss beeinträchtigen. Die Grundlage für belastbare, kundenfähige Ergebnisse sind exakt definierte Versuchsfahrten auf den Hochgeschwindigkeitskursen von Papenburg, Nardo (Italien) oder Idiada (Spanien).

Der gute Akustikeindruck – den die AMG Ingenieure natürlich mithilfe aufwändiger Messtechnik abgeprüft haben – profitiert von einer weiteren Spezialität: der nahtlos eingespritzten Heckscheibe aus Einscheiben-Sicherheitsglas. Ein spezieller Fertigungsprozess ermöglicht nicht nur einen bündigen Übergang zwischen Verdeck­außenhaut und Heckscheibe. Die Summe dieser konstruktiven Maßnahmen führt zu geringen Windgeräuschen bei geschlossenem Verdeck – egal bei welchem Tempo.

Ein äußerst komplexes Thema ist die Dichtheit eines Verdecks. Aber jedes Verdeck ist anders und die selbst gesteckten Ziele werden mit der Zeit immer anspruchsvoller. Wasser, Sand, Staub, Hitze und Kälte lauten die fünf Herausforderungen, denen sich die AMG Entwickler auch beim SLS AMG Roadster mit großem Engage­ment gewidmet haben. Eine Besonderheit des kompakten Verdecks ist der umlaufende Wassersack: Er ist unterhalb des Verdecks angebracht, fängt das Regenwasser auf und leitet es über zwei Öffnungen pro Seite definiert zum Unterboden ab.

Einen besonderen Härtetest stellt die Regenprobe im Mercedes Technology Center (MTC) in Sindelfingen dar, bei der sich jedes neue Fahrzeug mit dem Stern bewähren muss. Egal ob mit festem Dach, Stoffverdeck oder Variodach. Hier kommen extreme Wassermengen zum Einsatz, um am Ende der Entwicklung sicher zu sein, dass ein Fahrzeug dicht ist – was vor allem für Roadster oder Cabriolets eine Herausforderung darstellt. 16 Prüfun­gen sind erfolgreich zu absolvieren, bevor es heißt: Freigabe erhalten.

Ob die Schlauchprüfung, bei der alle Verdeck-, Tür- und Klappen-Dichtungen aus einem Wasserschlauch bespritzt werden, die Dauer­beregnung über Nacht, die Wasserdurchfahrt, die Vereisungs-, Schwall- und Hochdruckprüfung oder die abschließende Fahrt durch eine Waschanlage – die Regenprobe simuliert jeden möglichen Fall in der Praxis, und zwar auf jedem Kontinent.

Neben verschiedenen Prüfständen, wie der Regenkammer und dem Klima-Windkanal helfen den AMG Fachleuten die Testfahrten in allen Klimazonen der Erde, um die Problemfelder zu erkennen und Lösungen zu generieren. In Laredo, im US-Bundesstaat Texas, finden sie beispielsweise einen feinen Staub, der praktisch in jede Nische der Autos kriecht – und den Dichtungen wirklich alles abverlangt.

Das kompakte Stoffverdeck, das bequem mittels Bedientaste während der Fahrt bis 50 km/h in nur 11 Sekunden geöffnet und geschlossen werden kann, muss ebenfalls verschiedene Torturen über sich ergehen lassen: Typisch für einen neuen Mercedes-Roadster oder ein neues Mercedes-Cabriolet ist der standardisierte Verdeck-Dauer­test: 20.000 Schließvorgänge auf einem stationären Prüfstand dürfen für Hydraulikzylinder, Elektromotoren und Gelenke kein Problem darstellen. Hinzu kommen 2.500 Schließvorgänge im Fahrbetrieb, egal ob bei Hitze, Kälte, Feuchtigkeit oder bei trockenem Wüstenwind. Auch auf diesem Gebiet wird nichts dem Zufall überlassen – aus gutem Grund: Der hohe Aufwand soll dem Kunden grenzenlosen Fahrspaß mit seinem SLS AMG Roadster bescheren.

Sämtliche Optimierungsschritte sind abgehakt, die Produktions­tests im Mercedes-Benz Werk Sindelfingen wurden erfolgreich absolviert, aber die Entwickler sind immer noch nicht am Ziel. Bei der parallel laufenden Dauerlauf-Erprobung steht die Qualität des Gesamtfahrzeugs im Fokus. Sie simuliert ein Fahrzeugleben unter härtesten Bedingungen im Zeitraffer. Das Ziel: den erforderlichen Reifegrad sicherzustellen, bevor die Produktion der Kundenfahrzeuge anlaufen kann.

Die Dauerlauferprobung auf einen Blick

Gemischter Straßendauerlauf:

Erprobung aller Komponenten und Systeme im Zusammenspiel im Alltagsgebrauch. Die bis zum zulässigen Gesamtgewicht beladenen Testfahrzeuge spulen ein exakt definiertes Programm auf Landstraßen, Autobahnen sowie im Stadtverkehr ab.

Heide-Dauerlauf:

Im Fokus der Entwickler stehen die Betriebsfestigkeit der Fahrwerkkomponenten, der gesamten Karosserie sowie des Integralträgers, an dem Vorderachse, Lenkung und Motor befestigt sind. Die Testfahrzeuge sind dabei bis zum zulässigen Gesamtgewicht beladen.

Raff-Dauerlauf:

Gesamtfahrzeug-Erprobung mit Schwerpunkt Antriebsstrang und Fahrwerk. Besonderheit des AMG Programms: 10.000 Kilometer auf der Nürburgring-Nordschleife und 10.000 Kilometer im Stadtverkehr.

Volllast-Dauerlauf:

Extreme Beschleunigungs- und Verzögerungsprofile mit hohem Volllast-anteil, hohe Belastung für Kühlung, Kraftstoffversorgung und Bremsanlage.

Korrosions-Dauertest:

Die Korrosionserprobung am Gesamtfahrzeug simuliert härteste dynamische und klimatische Umwelteinflüsse.

Klausur-Erprobung:

Gesamtheitliche Überprüfung des Entwicklungs- und Fertigungs­reifegrades.

Ein umfangreiches und zeitlich straffes Programm, das für so man­chen AMG-Ingenieur erst bei der Weltpremiere am 13. September 2011 langsam in den Hintergrund rückt, wenn sich der neue SLS AMG Roadster im Blitzlichtgewitter auf der IAA in Frankfurt/Main präsentiert.

(Fotos: Daimler AG)

 

 

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Geschrieben von Oliver Hartwich
Erschienen am Donnerstag, den 05. Mai 2011 um 11:00 Uhr  |  8.383 Besuche

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